Kosmogonien: Zum Weltbild der alten Ägypter

Kosmogonien: Zum Weltbild der alten Ägypter
Kosmogonien: Zum Weltbild der alten Ägypter
 
Alle ägyptischen Kosmogonien stimmen darin überein, dass die Welt nicht aus dem Nichts, sondern aus einer Urmaterie entstand, die meist als Wasser (Nun) oder auch als eine Vielzahl »chaotischer« Aspekte vorgestellt wird, zum Beispiel Wasser, Finsternis, Endlosigkeit und Weglosigkeit. Daraus entsteht die Lehre von der Achtheit des uranfänglichen Chaos: Jedem männlichen wird noch ein weiblicher Chaosaspekt zugesellt (Amun und Amaunet: Verborgenheit; Huh und Hauhet: Endlosigkeit; Kuk und Kauket: Finsternis; Nun und Naunet: Wasser). Zentrum der Verehrung dieser acht Urgötter ist die oberägyptische Stadt Hermopolis (auch Hermupolis) Magna, weshalb diese Lehre die »hermupolitanische« genannt wird. In der Vorwelt gibt es nicht einmal das Nichts: die Unterscheidung zwischen Seiendem und Nichtseiendem gehört zu den Kennzeichen der geschaffenen Welt.
 
Nach der Lehre von Heliopolis entsteht die Welt, indem ein keimhaft das All in sich beschließender, unbewusst im Chaos treibender Gott namens Atum zu Wille und Bewusstsein kommt. Durch Selbstbegattung erzeugt er ein Zwillingspaar: Schu und Tefnut.Schu bedeutet »Lehre«, aber auch »Luft« und »Licht«. Tefnut ist die Göttin des Feuers. Auch hier (wie in der Bibel) ist das Licht die erste Schöpfungstat. Ein Text aus dem frühen 2. Jahrtausend kommentiert diesen kosmogonischen Akt, indem er Schu als »Leben« und Tefnut als »Wahrheit« ausdeutet:
 
»Da sagte Atum: TefnutTefnut ist meine lebendige Tochter,
 
sie ist zusammen mit ihrem Bruder Schu.
 
»Leben« ist sein Name,
 
»Maat« ist ihr Name.
 
Ich lebe zusammen mit meinem Kinderpaar,
 
zusammen mit meinem Zwillingspaar,
 
indem ich mitten unter ihnen bin,
 
der eine an meinem Rücken, die andere an meinem Bauch.
 
»Leben« schläft mit meiner Tochter »Maat«,
 
eines in mir, eines um mich herum,
 
ich habe mich aufgerichtet zwischen ihnen, indem ihre Arme um mich waren.«
 
Was hier beschrieben wird, ist der Moment, in dem der bewusstlos im Urwasser treibende Urgott zu Bewusstsein kommt und aus handlungsunfähiger Mattigkeit in Bewusstsein, Willen und Tat eintritt.
 
Auf einer weiteren Stufe der Ausdeutung werden Schu-Leben und Tefnut-Maat dann auch als »Neheh-Ewigkeit« und »Djet-Ewigkeit« bezeichnet: »Ich bin Neheh, der Vater der Heh-Götter, meine Schwester Tefnut ist Djet.« Neheh und Djet sind Begriffe für die Fülle und Unabsehbarkeit der Zeit. Dabei bezeichnet Neheh die unaufhörliche Bewegung der in sich kreisenden Zeit, Djet die unendliche und unwandelbare Dauer dessen, was sich in der Zeit ereignet und vollendet hat.
 
Bevor Gott überhaupt anfangen kann zu handeln, muss er zu Bewusstsein kommen, indem er diese beiden in ihm schlummernden Urkräfte, Leben und Wahrheit, aus sich heraussetzt: »Als er Einer war und zu Dreien wurde«, wie es in dem Text heißt. Leben und Wahrheit sind uranfängliche Wesenheiten: Sie waren am Anfang, waren bei Gott, und Gott war Leben und Wahrheit. Das klingt ähnlich wie der Beginn des Johannesevangeliums im Neuen Testament: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.. .. Alles ist durch das Wort geworden. .. In ihm war das Leben. ..« Es gibt aber einen gewichtigen Unterschied zum »Logos« (Wort) des Johannesevangeliums. Durch den Logos erschafft Gott die Welt. Leben und Wahrheit der ägyptischen Religion aber erschaffen nicht die Welt, sondern ermöglichen die Weltwerdung Gottes.
 
Die Kosmogonie von Heliopolis stellt die weiteren Stadien der Weltentstehung als einen Stammbaum mit vier Generationen dar.
 
Die vier Generationen lassen sich zugleich als eine Elementenlehre verstehen, was sich spätere Texte (ab dem Neuen Reich) nicht entgehen lassen: Atum = Sonne, Schu = Luft, Geb = Erde und Osiris = Wasser.
 
Nach einem Mythos, der vermutlich im Mittleren Reich entstand, lebten in der Welt bei ihrem ersten Entstehen die Götter und Menschen noch zusammen. Dann aber kam es zu einer Empörung der Menschen gegen die Herrschaft des Schöpfer- und Sonnengottes. Fast hätte dieser sie zur Strafe dafür mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Aber dann fand er eine andere Lösung. Er wölbte den Himmel hoch über und unter die Erde und zog sich mit den Göttern in diesen zurück. Auf der Erde aber setzte er seinen Sohn, den Luftgott Schu, als Nachfolger ein. Schu hat die Aufgabe, den Himmel hochzustemmen und zugleich als Mittler zwischen Himmel und Erde, Göttern und Menschen zu wirken. So sagt er:
 
»Ich bin es, der inmitten der Millionen ist und die Reden hört der Millionen.
 
Ich bin es, der die Worte des Selbstentstandenen (Sonnengottes) gelangen lässt zu seiner Menge (= Geschöpfen).«
 
Schu ist das Modell eines jeden Königs, der genau wie er vom Sonnengott als Stellvertreter eingesetzt wird. Wären die Götter gegenwärtig, gäbe es keinen Staat. Weil die Götter aber fern sind, muss es eine Institution geben, die den Kontakt mit der Götterwelt auch unter den Bedingungen der Gottesferne aufrechterhält. Dieser Mythos stellt den gegenwärtigen Zustand in das Licht einer Geschichte, die ihn als Heilung eines Bruchs und als Ausgleich eines Verlustes erklärt, nämlich des Verlusts von leibhaftiger Gottesnähe. Anstelle der ursprünglichen unmittelbaren Gottesnähe entsteht der kulturell geformte, auf den Möglichkeiten symbolischer Vermittlung und Vergegenwärtigung beruhende Raum der Gottesnähe, in dem Pharao, der König, als Repräsentant des Schöpfergottes herrscht:
 
»Re hat den König eingesetzt
 
auf der Erde der Lebenden
 
für immer und ewig
 
beim Rechtsprechen der Menschen, beim Befriedigen der Götter,
 
beim Entstehenlassen der Maat, beim Vernichten der Isfet.
 
Er (der König) gibt Gottesopfer den Göttern
 
und Totenopfer den Verklärten.«
 
Der Sinn des Staates und des politischen Handelns wird als Abwendung von Chaos (Isfet) verstanden. Wir dürfen diesen Begriff des Chaos jedoch nicht mit dem kosmogonischen Chaos verwechseln, dem Urzustand der Vorwelt, aus dem die Ordnung der Schöpfung hervorgeht. Das Chaos, zu dessen Abwendung der König bestellt ist, gehört nicht zur »Kosmogonie«, zur Entstehung der Welt, sondern zur »Kratogonie«, zur Entstehung der Herrschaft. Die Kosmogonie ist für den Ägypter ein komplexer Prozess, der die beiden Aspekte von Weltwerdung Gottes und Schöpfung miteinander verbindet. Durch die Kratogonie jedoch, die Entstehung der Herrschaft, erhält der Schöpfer die entstandene Welt. In diesen Zusammenhang gehört auch die Vorstellung vom Bösen. Ihm stellt sich der Schöpfer in der Gestalt des Sonnengottes entgegen und tritt selbst mit den tödlichen Insignien des vergänglichen Königtums auf. Auch der Sonnengott muss die lebenspendende Gerechtigkeit, die er mit seinem Licht verbreitet, gegen die allgegenwärtige Bedrohung des Bösen durchsetzen, das sie in der Gestalt eines riesigen Wasserdrachens gefährdet.
 
Eine weitere Ausdeutung und Steigerung erfährt die Lehre von Heliopolis durch das »Denkmal memphitischer Theologie« (nach 1250 v. Chr.). Dieser leider sehr zerstörte Text lässt die Achtheit des Chaos, die in der hermupolitanischen Lehre den Urzustand personifiziert, aus Ptah entstehen, der damit als die schlechthin transzendente, auch dem Urzustand noch voraus- und zugrunde liegende Einheit dargestellt wird, in dem acht Urgötter Gestalt gewonnen haben.
 
Dann heißt es von Ptah weiter:
 
»Seine Neunheit war vor ihm
 
als Zähne, das ist der Same des Atum
 
und als Lippen, das sind die Hände des Atum.
 
Es war ja die Neunheit des Atum entstanden
 
durch seinen Samen und durch seine Finger.
 
Die Neunheit aber ist in Wahrheit Zähne und Lippen
 
in diesem Munde dessen, der die Namen aller Dinge erdacht hat,
 
aus dem Schu und Tefnut hervorgegangen sind, der die Neunheit geschaffen hat.«
 
Die altheilige Lehre von Heliopolis wird in diesem Abschnitt auf Memphis hin ausgelegt; so begründet sich der Herrschaftsanspruch der Stadt. »Same« und »Hände« des Atum, mittels derer er in einem Akt der Selbstbegattung Schu und Tefnut erzeugt hat, werden als »Zähne« und »Lippen« ausgedeutet, die den Rahmen bilden für die alles durch Aussprechen erschaffende Zunge.
 
Der Schöpfungsvorgang wird als körperliche Schöpfung gedeutet. »Phallus« und »Hand«, die überlieferten Körpersymbole der Schöpfungskraft, werden als »Zähne und Lippen« gedeutet. Die eigentlich kreativen Organe sind Herz und Zunge. Da der Ägypter keine scharfe Grenze zwischen »Körper« und »Geist« zieht, werden auch Erkenntnis und Sprache als körperliche Phänomene verstanden. Die Erkenntnis entsteht im Herzen aufgrund der ihm gemeldeten sinnlichen Eindrücke. Die im Herzen geformte Erkenntnis wird von der Zunge mitgeteilt.
 
So kennt auch die ägyptische Weltentstehungslehre eine Schöpfung durch das Wort, durch die Zunge. Sie unterscheidet sich von der biblischen in zwei Punkten: Der eine ist die Rolle des Herzens, das heißt des planenden Entwurfs der Schöpfung; davon ist in der Bibel nicht die Rede. Der andere ist die Rolle der Schrift, der Hieroglyphen. Denn was das Herz ersinnt, ist der »Begriff« und die »Form« der Dinge. Durch die Zunge erhalten die Begriffe ihre Lautgestalt, die vom Herzen erdacht und von der Hieroglyphenschrift in sichtbare Form gebracht wird:
 
»Es entstanden aber alle Hieroglyphen
 
durch das, was vom Herzen erdacht und von der Zunge befohlen wurde.«
 
Prof. Dr. Jan Assmann

Universal-Lexikon. 2012.

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